Vorsätzliche Verstrickungen- Alexandra Karrasch - Jürgen Kellig
Galerie Artae, Leipzig



Rede zur Ausstellungseröffnung am 14.01.2011
von Armin Hauer Museum Junge Kunst / Frankfurt (Oder)

Als ich von der Einladung erfuhr, ein paar Worte zur Eröffnung zu den Objekten und Zeichnungen von ALEXANDRA KARRASCH und JÜRGEN KELLIG zu sagen, war ich überrascht im Zentrum der figurativen und narrativen Kunst, der sogenannten Neuen Leipziger Schule, eine Ausstellung vorzufinden, die einen anderen Weg einschlägt. Denn hier wird nichts erzählt, es gibt keine Weiterführungen des Traumes mit den Mitteln der Malerei. Die Objekte und Zeichnungen verweisen auf sich selbst - sie erzeugen eine Realität, die parallel zu der unsrigen besteht. Farbe spielt in dieser Exposition eine sekundäre Rolle. Die Linie ist das Grundvokabular von ALEXANDRA KARRASCH und von JÜRGEN KELLIG. Andere Aspekte, die es ebenfalls in ihrem umfangreichen Werk gibt, sind in der Auswahl, die sich auf jeweils eine Werkgruppe bezieht, nicht zu sehen. Die Konzeption der Ausstellung ist gewissermaßen eine Huldigung an die Linie.

Der Titel "Vorsätzliche Verstrickungen" verweist auf ästhetische und konzeptionelle Gemeinsamkeiten. Bei Beiden ist ein All- over in der Behandlung von Fläche und Raum auszumachen. Zudem besitzen die Werke einen semantischen Selbstverweis. Das heißt, sie sind aus ihrer Struktur heraus zu deuten und verweisen wiederum auf sie. Sie empfangen ihren Grundimpuls aus einem außerkünstlerischen Kontext und können sich diesem wieder öffnen. Bei einem differenzierten Betrachten ergeben sich, allein aufgrund der unterschiedlichen Medien Objekt und Zeichnung, zumindest zwei gegensätzliche Strategien. Die Objekte besetzen mit den Parametern Länge, Breite und Höhe den Raum und schaffen etwas haptisch Faktisches und Vielansichtiges. Der Betrachter befindet sich in Bewegung und erhält "viele Ansichten" vom Objekt. Es zeigt sich offen und im selbem Moment nicht vollständig sichtbar. An den Wänden ist das Lineare auf dem zweidimensionalen Bildgrund präsent. Die Linie breitet sich mittels einer physischen Energie auf den Flächen aus, bildet Inseln, Cluster und Mikro-Makro Strukturen. Die sich ergebende Räumlichkeit ist eine, die mittels des Geistes evoziert wird, dabei dringt Licht aus der "Tiefe" heraus. Dem Medium entsprechend, kommt das visuell Fiktive zum Tragen. Zusätzlich zu diesen, den Techniken eigenen Unterschieden, kommt der individuelle Stil und das unterschiedliche konzeptionelle Wollen hinzu.

Der verräumlichten Linie begegnen wir im Werk von ALEXANDRA KARRASCH in Form von verschiedenen Drähten, die sich im Raum bewegen und zu Objekten geformt werden. Die Drähte stammen aus dem profanen Bereich der Technik und bestehen zum Beispiel aus Messing, aus Aluminium oder aus Kupfer. Diese "greifbare Linie" vermittelt unmittelbar geronnene Bewegung, die jederzeit durch das körperliche und visuelle Abschreiten aktiviert werden kann. Sie schafft den Raum um sich herum, so auch die Zeit die benötigt wird, um von dem einen Punkt zum anderen zu gelangen. Der Draht und seine Verstrickungen und Verflechtungen gerinnen in einem langwierigen Arbeitsprozess zu einem Objekt des Faktischen und des Haptischen. Jedoch bilden sie durchlässige Schichtungen, Hohlräume, Gitter, Maschen, Waben, Netzformen, Zellen aus, die sich wiederum zu einem Chaos oder zu klaren Strukturen formieren können. Hohl- und Zwischenräume werden zu Volumina ohne Stofflichkeit - zu fragilen Gebilden mit einer durchlässigen Membranen, durchlässig für Lichteinfall, für die Luft, für den Raum und für den Blick des Betrachters. Die Prinzipien der jeweiligen Grundstruktur sind nachvollziehbar, lapidar und klar: Wiederholungen, Additionen, Reihungen, Schichtungen. Die Form reagiert auf die jeweiligen Ausstellungsbedingungen, vergleichbar vielleicht mit der Reaktionsfähigkeit einer Amöbe. Dabei bildet das Lineare etwas Malerische aus. Der Draht verliert im zeitintensiven Arbeitsprozess seine Gestalt. Vor unseren Augen spielt sich eine visuelle Alchemie ab.
Es sind einfache, aber ebenso komplexe Strukturen, denen mathematisch geometrische Prinzipien zugrunde liegen, die einer rationalen Logik folgen. Es fällt der Begriff von hyperbolischen Flächen, die sich durch ihr konkaves und konvexes Wuchern vergrößern, ohne sich weiter in der Fläche auszudehnen. Von solchen Dingen verstehe ich zu wenig. Jedoch wurde mir bewusst, dass dort wissenschaftliche Prinzipien walten, die visuell irrationale Momente zur Folge haben. Wissenschaftlichkeit und Ästhetik gehen eine Liaison ein, ohne dass die Kunst zur Illustration von Gesetzen wird.

JÜRGEN KELLIG stellt Tusche-Zeichnungen auf großen/kleinen Papierbahnen vor. Es sind Arbeiten aus einer Werkreihe, die sich auf das Lineare und auf das Schwarz/Weiß/Grau konzentrieren. Innerhalb dieser, fast als minimalistisch zu beschreibenden Selbstbeschränkung erarbeitet er sich eine formale Vielschichtigkeit und zeichnerische Differenzierung. Die Farbe ist nicht das Thema. Es sei dennoch erwähnt, dass in seiner Malerei Werkgruppen existieren, die sich farblichen Bahnen und Streifen widmen. Sie greifen Anregungen der Farbfeldmalerei auf. Andere Bilderfolgen zeigen Varianten von Formüberlagerungen, vom Nebeneinander gesetzter Kreise, Winkelformen und Flecken. Klares gerät in Vibration, Formballungen bilden Inseln der Konzentration.
Seine Zeichnungen gehören zu einer Serie, die den Titel Mikro-Makro trägt. Sie erobern im All-over die mal großen und mal kleinen Papierbahnen. Dort sehen wir einen Ausschnitt aus einem Ausschnitt. Es gibt kein klares Oben, Unten, Links und Rechts. Schwünge, Bögen, Kurvaturen, Gitterformen und Raster verraten etwas von der körperlichen Bewegung des Zeichners, vom Fluss der Energie, vom Verströmen, vom Gerinnen, vom Stauen, Zerfließen, Überlagern, von flächigen Tiefenschichten. Das Auge fährt die Linie entlang und schafft sie neu. Der Betrachter ist der Vollender der Zeichnung, bzw. er ist der, der mit dem Verfolgen des Linearen die Zeit erfährt - und einen illusionären Raum eröffnet. Der Hintergrund wird gleich einem Raum, einer Tiefe, angefüllt mit Licht. Dadurch ergibt sich eine, zumindest zweifache räumliche Schichtung in seinen Blättern. Kommt unser Standort als dritter Raum hinzu, dann befindet sich seine Zeichen-Welt zwischen einer durchlichteten Weite und unserem konkreten Standort. Das Zwischenreich ist flächig bedingt, vermeidet aber eine flächenhafte Ausstrahlung.

Die Objekte und Zeichnungen von beiden Künstlern lassen verschiedene Assoziationen aufkommen und man ist geneigt, immer wieder ein "Es sieht aus wie..." einzufügen, um eine Aufzählung von mal mehr oder weniger davon entfernten Naturerscheinungen, mikroskopischen Strukturen oder makroskopische Formen folgen zu lassen. Doch so eine Projektionsstrategie lenkt viel zu sehr vom zu Sehenden ab, als dass es das, verbal wohl nie zu Fassende anerkennt.
In der Kunst gibt es schon sehr lange den Streit, welches Medium den Vorrang vor dem anderen hat: Ist die Malerei aussagefähiger als die Plastik? Ist die Zeichnung geistvoller als die Malerei? Ist die Fotografie realistischer, als es die Malerei sein kann? Hier schwingt der alte Wettstreit zwischen Plastik und der Zeichnung/Malerei mit. Der Disput zwischen Fläche und Raum, zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven ergibt in dieser Konstellation einen anregenden Dialog.

Armin Hauer