Nicht zu beruhigen.
Zwischen Linie und Strich und darüber hinaus

Jürgen Kellig zeichnet freihändig.

       Zivilisation-III_2017_Tusche-Papier_100x100cm-x-1.jpg, 240kB

Text für den Katalog NOTATIONEN-JÜRGEN KELLIG
anlässlich des VBK-Benninghauspreises 2017, Berlin
von Wolfgang Siano

Die Exaktheit seiner zeichnerischen Elemente folgt keinem Programm, keinem grafischen Schema. Sie simuliert die Bestimmtheit geometrisch definierter Gesetzmäßigkeit wie in einer Zone der Unbestimmtheit zwischen mikrologischer Nähe und makrologischer Ferne, die er in früheren Arbeiten schon direkt thematisiert hat. Entsprechend suggerieren die Titel seiner neuen Zeichnungen begriffliche Klarheit: „Notation“, „Partitur“, „Vernetzung“; „Zivilisation“. Sie transformieren in begriffliche Assoziationen, was als Bild erscheint, Resultate der assoziativen Verläufe zeichnerischer Selbstbezüglichkeit, der Setzung von Punkt als Punkt, Linie als Linie und Fläche als Fläche sowie deren Folge freier Kombinationen.

Die erste Setzung eines Elements gibt den Anstoß für alle folgenden, für die Entfaltung ihrer unabschließbaren Komplexität zu zeichnerischen Modellen spezifizierter Möglichkeiten. Darin allerdings, in dieser Offenheit, sind sie programmatisch. Jede Linie ist als Strich ein endliches ‚Manöver’, d.h. ein Handwerk, das als Form des Denkens verstanden werden kann, um eine Anleihe bei Heidegger zu machen. Es erschließt keinen Ort, sondern eher einen dynamischen Impetus, der das Zeichnen, indem es sich auf sich selbst bezieht, über sich hinaustreibt als gebrochener Spiegel einer definitorisch konstruierten Realität.

Die introvertierte Verbindung des für das Zeichnen charakteristischen Verhältnisses von „psychischer Improvisation“ und „denkerischem Vorgang“, wie noch Paul Klee es sah, wird dekonstruiert und an die konstruktiv differierende Realität angeschlossen, die so zugleich die der Zeichnung ist. Die potentielle Unendlichkeit der Linie ist der als Objektivation begrenzte, freihändig gezogene Strich, die das Bild definierende und als Realität negierende Fläche erscheint begrenzt in ihrem Verhältnis zur Objekthaftigkeit des Papiers als Bildträger und der Punkt ist nicht mehr das materiale Zentrum einer wie immer vorstellbaren Raumkonstruktion sondern markiert die Unbestimmtheit der mit herkömmlichen Mitteln darstellbaren räumlichen Ausdehnung.

Der Fluss der Tusche schließlich wird still gestellt in ihrer Verortung auf dem Papier des Bildträgers. Wie Carl Andre’s gegeneinander verdrehte Stahlquadrate, die einmal im Berliner Körnerpark den achsialen Orientierungssinn der über sie hinweglaufenden Besucher herausforderten, sind für Jürgen Kellig die Bildträger zugleich bewegliche Objekte, die - während des Zeichnens in sich verdrehbar - ein gegenläufiges Spiel mit dem Orientierungssinn und der Disposition des Auges ermöglicht. Alle Elemente zusammengenommen, eröffnet solche Dekonstruktion, wie Derrida sagt, „ein Spiel ohne Ende“ oder einen Wechsel von Ordnungen bei gegebenen Parametern im Sinne eines nicht abschließbaren Ganzen.

Das ‚Zwischen’ in dem Verhältnis von Linie und Strich – um auf den Einsatz des Titels zurückzukommen – verweist in der Einheit seiner Form nicht nur auf deren implizite Ambivalenz, sondern hat auch eine Entsprechung in der durch diese Form gesetzten Grenzziehung. Sie öffnet sowohl als schließt auch die zeichnerisch zu assoziierenden wie die darüber hinausweisenden Assoziationsräume.

Bei einer freihändig gezogenen Linie ist dem ‚in der Spur bleiben’ immer eine Abweichung, eine organische Unbestimmtheit einbeschrieben. Sie beruht auf dem Strich als Protokoll einer Bewegung, die in der Endlichkeit dieser Bewegung nicht zu beruhigen ist. Sie bleibt nicht in der Spur, sondern springt im Fortgang der Zeichnung immer wieder aus ihr heraus und verzeitlicht so die gezogenen Grenzen in der Permanenz ihrer Überschreitung. Das Weiter dieser Permanenz ist ein stetes von Neuem.

Damit zeichnen die Zeichnungen in ihren so verstandenen Elementen ein Menschenrecht auf Abweichung: neben der Spur zu sein, sie zu verrücken und zu unterlaufen. Solche Abweichung erinnert an die Unmittelbarkeit, die in der Kontinuität der künstlerischen Produktion auf sich voraus weist. In ihr wird die Spontaneität zur protokollierten Selbstvergessenheit und die in ihr aufsteigenden Assoziationen werden zum rückbezüglichen Fortschritt über die Selbstvergessenheit hinaus.

Aus diesem Verständnis heraus können die Zeichnungen Jürgen Kelligs als dezentrierte Meditationsbilder betrachtet werden, deren ornamentale Perspektivität in der Gleichzeitigkeit ihrer sich überschneidenden Ausdehnung, ihres assoziativen Verspringens, gebrochen wird. Das macht sie zu Modellen nichtfunktionaler ‚Vernetzung’, zu anleitenden Vorschlägen für neue Raumordnungen einer sich freier assoziierenden ‚Zivilisation’.

Das ergänzende Medium dieser Vorschläge ist die Erweiterung der zeichnerischen Assoziationsräume zu Aktionsschriften von Klängen, wie grafische Notationen oder musikalische Grafiken auch genannt werden. Tonhöhen, Dauern, Dynamiken und Klangfarben lassen sich aus Jürgen Kelligs ‚Notationen’ und ‚Partituren’ erschließen, als wären es Kompositionen im musikalischen Sinn. Ihre zeichnerischen Verläufe erscheinen als Schriftbilder verklungener Klänge einer die freien Assoziationen des Zeichnens leitenden Spannung durch das Verhältnis von „Improvisation“ und „Denken“ oder von Intuition und Kalkül hindurch. Diese Klänge zu erinnern ist dem Betrachter aufgegeben, so wie in Umkehrung einer Idee Schellings zufolge, Musik als erstarrte Architektur gedacht werden kann, als Permanenz einer Zeitlichkeit, deren Erfahrung an der Vorläufigkeit von Dauer sich immer wieder erneuern muss.

Wolfgang Siano


Zivilisationen

Rede zur Ausstellungseröffnung NOTATIONEN- BenninghausPreisträgerausstellung 29017

Die Verschränkung von Ordnung und Unordnung, mit der Jürgen Kellig eine Reihe früherer Zeichnungen charakterisiert hat, ist von ihm in den letzten zwei Jahren folgerichtig weiterentwickelt worden. Er hat die Reflexion dieser Verschränkung mit in den Prozess ihrer Darstellung einbezogen. Die Arbeiten, die er hier in seiner Ausstellung zusammengefasst hat, können schon auf Grund ihrer Anordnung als eine solche Reflexion verstanden werden.
Im Einzelnen zeigen sie sich als Protokolle von Assoziationsverläufen, die sich im Arbeitsprozess aus den Elementen des Aufzeichnungsverfahrens – aus Punkt, Linie und Fläche – selbst ergeben. Deren vielfältig unterbrochene rekursive Ordnungen erscheinen schließlich als Schaltpläne einer konzeptionellen Freiheit, die im Wechsel des Öffnens und Schließens von Zwischenräumen, in diskontinuierlicher Kontinuität, momentweise zur Erfahrung kommt.
‚Notationen’ hat Jürgen Kellig den Katalog zu dieser Ausstellung betitelt, und damit ist ganz allgemein der Zusammenhang von Zeichen und Informationen gemeint. In der Erfahrung von diskontinuierlicher Kontinuität erweitern sich jedoch innerhalb dieses Schemas die Spektren von Bedeutungsmöglichkeiten, so wie innerhalb einer gesprochenen Sprache, im Gebrauch ihrer Elemente, die Bedeutungen immer wieder kontextuell beglaubigt werden müssen und darin auch einem impliziten Wandel unterliegen.
Im hinteren Raum der Ausstellung finden wir die Zeichnung ‚Zivilisation’ und sie hat, so vom Ende her gedacht, programmatischen Charakter. Ihre grafischen Formen erinnern in ihren partiellen Symmetrien und geometrischen Mustern an archäologisch erschlossene Grundrisse architektonischer Überreste einer vergangenen Welt. An zeichnerische Überlieferungen auch aus Renaissance und Barock, die sich nicht mehr zu einer übergreifenden Einheit fügen.
Sie sind vereinzelt und in dieser Vereinzelung erzeugen sie eine Spannung, die über sie hinausweist, sie zugleich aber auf die Formen der Überlieferung bezogen bleiben lässt. Die Idee der ‚Zivilisation’ wirkt nach, aber sie wird unter veränderten Bedingungen zu einem fortwährenden Auftrag. Sie ist nicht mehr einfach als Konstruktion zu entwerfen,sondern aus der Ungleichzeitigkeit ihrer überlieferten Formen sowie der Gleichzeitigkeit ihrer funktionalen Elemente anders zu entwickeln.
Die überlieferten Formen der modernen Zeichnung haben ihren Ursprung in eben der Renaissance und dem Barock, die sie aus geometrisch-mathematischen Kalkülen heraus entwickelten. Sie waren damit aber auch immer schon einbezogen in bzw. konstitutiv für den militärischen und den finanztechnischen Komplex. Dieser systematische Aspekt der Zeichnung hat sich heute in den virtuellen Welten verselbständigt. Und von hier aus stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines programmatisch anderen Kalküls. Eines Kalküls, das den Horizont des Zivilisatorischen offenhält, so wie die Zeichnungen von Jürgen Kellig in ihrer Unabgeschlossenheit auf den offenen Prozess ihres Entstehens zurückverweisen.
Diese Unabgeschlossenheit hat Aufforderungscharakter. Sie wendet sich an die Betrachter wie an den Künstler selbst: weitersehen, weiterhören, weiterdenken, sich auf Möglichkeitsräume hin entwerfen. So werden einige Arbeiten als Partituren verstanden, vielleicht als Partituren von Zwischenraummusiken, die sich als grafische Ereignisse in der Spannung der assoziativ aufeinander bezogenen Elemente zeigen. Wollte man oder frau die Partituren musikalisch interpretieren, hätten sie sie – ausgehend von und rückbezüglich auf die vorgegebene Notation – auf eigene, wiederum assoziative Weise fortzusetzen, so wie der Begriff Partitur eine assoziative Erweiterung des Begriffs Notation darstellt..
Heute morgen bin ich auf einen Satz von Paul Valéry gestoßen, in dem es heißt: „Das Ereignis kommt hoch, erscheint, blendet, verblüfft – und verrauscht.“ Vielleicht hat Valéry zu schnell kapituliert. Sicher hat er recht, wenn man an die Echtzeitkonstruktion der Digitalisierung denkt, die das Verschwinden der Zeit in ihrer Permanenz von Gegenwart verschließt, so, wie auf snapchat die bildliche Beglaubigung des gelebten Lebens im getakteten Zeitstrom portioniert wird.. Dieser Konstruktion jedoch ist, in einer wiederum erweiterten Gleichzeitigkeit, das individuelle Zeitbewusstsein Jürgen Kelligs entgegenzustellen, das sich in eigenen Zeitfeldern verortet. Dessen Ereignishaftigkeit kommt in Zwischenräumen zur Erfahrung, die gleichermaßen durchlässig sind auf vergangene wie auf zukünftige Ereignisse. Ihr Verrauschen ist das Echo des meditativen Rauschs seiner Produktion.

Wolfgang Siano